Social-Media-Videos sieht man überwiegend auf dem Handy-Display. Was siehst Du? Schauen wir in die Kristallkugel.
An was erinnern wir uns und in welcher Gestalt?
Bitte schließ 30 Sekunden die Augen. Welches Social-Media-Video fällt Dir ein, das Dir auf dem Handy-Display begegnet ist? Welches Thema? Welche Story? Welcher Absender? Auf welcher Plattform? Wo warst Du eingeloggt? Wo warst Du surfen? Woher kam der Link? Viel Spaß beim Grübeln.
Wer beeinflusst uns?
Freunde, Opinion Leader, Influencer, Netzwerker, Unternehmer und Algorithmen. Das Social-Media-Video lebt vom viralen Effekt. Es verbreitet sich über Internetseiten, Blogs, Facebook, LinkedIn, Xing, WhatsApp, Instagram, TikTok, Twitter und viele, viele weitere. Es scheint authentisch, aber jeder Kontakt beeinflusst uns. Algorithmen, Formatierungen, Erzählmuster, Bildformate, Speicherformate und User-Erwartungen müssen in der Konzeption berücksichtigt werden. Ein Formatwechsel hin zum Hochformat ist für Social-Media-Videos stilprägend.
Viral pur. Me and My Memes
Hier soll kurz der Begriff Meme eingeführt werden, weil es sich bei den Social-Media-Videos, die sich in der Kürze entfalten, meist um solche handelt. Memes sind kombinierte, kopierte, kommentierte, manipulierte, parodierte oder ironisierende Bilder: Foto, Video und oder Text. Eine ansteckend kurze Informationseinheit und Minimal-Geschichte.
Das Self-Video
User werden zu Produzenten. Ein Phänomen, das sich, seit es Film im Internet gibt, ausbreitet und manifestiert. Der User wird Producer. Dabei handelt es sich um selbstproduzierte Videos, die ihren Weg in soziale Medien finden. Wenn sie nicht selbstgedreht sind, weil sie für die Werbung produziert wurden, dann sehen sie zumindest so aus. Typisch sind leicht verwackelte Bilder und sogenannte One-Shots, Videos, die mit einer einzigen Kameraeinstellung auskommen. Ganz nebenbei ein Sport der Werbekreativen in den 10er Jahren des 21. Jahrhunderts. Die Ton- und Bildqualität ist meist mies, aber das spielt ja keine Rolle. Hauptsache, die Katze mit dem Kanarienvogel auf dem Kopf ist scharf.
Wirft man einen Blick auf die Influencer-Videos, dann findet man nach holprigen Anfängen ganz schnell das Gegenteil. Die Influencer, Gamer, Entertainer und Selbstdarsteller produzieren am Fließband. Mit Redaktionen, Filmproduktionsteams, Studios und Postproduktionen im Hintergrund. Täglich werden neue Videos an die Communitys hochgeladen. Es geht um Kontakte, Zielgruppen, Reichweite und Abonnenten.
My Social-Media-Video. Ganz privat
Mein Handy vibriert. Mich erreichen Videos meiner Freunde. Ein wilder Ritt im Stenogrammstil über die Bilder.
Der schwarze Pudel fährt auf einem Skateboard. Ein Kind in einem Regencape, das es wie eine Ente aussehen lässt. Mein Patenkind bei der Konfirmation. Eine E-Gitarre mit fünf Gitarrenhälsen wird von drei Personen gespielt. Ein Mann schneidet Süßkartoffeln auf einem Reibeisen und die Kartoffelschnitze fliegen meterweit in einen Topf. Mein bester Freund winkt mir aus Mauritius zu und springt in den Pool. Am Außenspiegel eines Autos hängt eine Schlange.Der Bedienung im Restaurant fallen fünf volle Biergläser vom Tablett. Ein Igel liegt auf dem Rücken und lässt sich am Bauch kitzeln. Ich und Maximilian im Konzert. Ein Eichhörnchen liegt in einer Tasche und isst genüsslich ein Stückchen Keks. Ein Hund springt von einem Straßenpoller auf den nächsten und den nächsten – zehn in einer Reihe und wieder zurück. Ein Mann treibt 100 Enten eine Straße entlang und alle watscheln ihm hinterher. Ein ungefähr zweijähriges Kind vervollständigt einen Zauberwürfel. Ein Traktorfahrer fährt rückwärts die Böschung runter, gerade rechtzeitig können alle abspringen, als der Trecker fahrerlos in den Fluss rollt. Eine Ratte wäscht sich selbst unter dem Wasserhahn. Und so weiter, und so weiter …
Die spontane Bildersammlung ist nicht repräsentativ und nicht von meinem Handy. „Isch schwöre es, Alter!“ Sie ist frei assoziiert. Ich wollte nur sagen, welche Inhalte sich verbreiten. Abwechslung und Unterhaltung für wenige Sekunden, die uns ein Lächeln, Staunen oder Betroffenheit entlocken. Manche Storys sind wie ein Blick durchs Schlüsselloch, andere sind Schnappschüsse und Kuriositäten. Kleine und große Stars oder Schweinereien für Sekunden.
Faszination Leben, Mensch und Umwelt
Schauen wir tiefer in die Kristallkugel. Ein erfolgreiches Video der Frankfurt Radio Big Band des Hessischen Rundfunks ist dieses auf Facebook. Ein Mitschnitt einer Orchesterprobe. Der Drummer Anton Eger spielt mit Metallmessern auf dem Schlagzeug.
Titelzeile: „Caution!!! Don’t try this at home“, gepostet am 14. September 2017. Text: „Anton Eger playing the drums with knives.“ Daraufhin sieht man einen Probenmitschnitt. Er im Bild an seinem Schlagzeug. Im Hintergrund andere Musiker der Band. Sie proben zusammen ein Jazz-Stück und er spielt 30 Sekunden lang mit Messern auf Trommeln und Becken. (Hessischer Rundfunk, Frankfurt Radio Big Band, Anton Eger mit Metallmessern am Schlagzeug, 2017)
Ein erfolgreicher Post des MDR Thüringen aus dem Januar 2017. Titel: „Seifenblase gefriert.“ Beschreibungstext: „Holen Sie schon mal das Seifenblasen-Blasgerät heraus. Bald könnte dieser Trick wieder funktionieren. Dieses kleine Kunstwerk aus Thüringen entstand vor knapp zwei Jahren bei minus 16 Grad Celsius und ging viral um die Welt. In Echtzeit benötigte die Seifenblase nur vier Sekunden und fror zur Eisblase.“ Das Video ging um die Welt und hatte bereits über 4,5 Millionen Klicks.
Es ist frostig kalt. Zwei Finger halten einen Strohhalm, auf dessen Spitze eine Seifenblase sitzt. Die Seifenblase wird abgesetzt und gefriert sekundenschnell. Dabei bilden sich wundervolle, winterliche Eisblumen auf der gefrorenen Seifenblasenoberfläche. (MDR Thüringen, Seifenblase gefriert, 2017)
Das Ereignis ist faszinierend und ein authentisches Experiment. Die Gegenwärtigkeit, dass das Experiment beim Zuschauen zeitgleich gelingt, fasziniert. Es liegt außerhalb des Vorstellbaren und erregt dadurch unsere Aufmerksamkeit und Neugierde. Faszination Leben, Mensch, Tier und Umwelt sind Themen, die User faszinieren. Babys, Tiere und Cute Content sind Klickrenner im Internet. Das Baby als Alleskönner, das Tierkunststück, der Esel in der Hängematte und so weiter.
Wir beobachten weiterhin uns selbst und andere Mehrheiten
Neben selbstgedrehten Videos werden Video-Schnipsel aus Shows, Filmen und anderen filmischen Inhalten kopiert und geteilt. Ein weit verbreitetes Video stammt aus der Comic-Serie Die Simpsons und heißt: Homer Simpson, Lie Detector – do you understand? Aus dem Jahr 2012.
Ein Untersuchungsraum im Keller der Polizei. Ein Aufpasser in Zivil steht Zigarette rauchend in der Ecke vor den Gittern einer Gefängniszelle. Er bläst demonstrativ den Rauch seiner Zigarette in die Luft, comicartig. Homer sitzt an einem Tisch und auf seiner Glatze wurden Drähte angeklebt. Er muss einen Lügendetektor-Test über sich ergehen lassen und ist total aufmerksam wie beim Onkel Doktor. Vor ihm der Lügendetektor und ihm gegenüber sitzt Agent Scully, die humorlose Psychologin, die ihn testet und jetzt einführt: „Now we‘re going to run a few tests. This is a simple lie detector. I’ll ask you a few yes or no questions and you just answer truthfully. Do you understand?“ Homer erwidert ohne Verzögerung mit kräftiger und tiefer Stimme: „Yes!“ Der Lügendetektor explodiert. (Die Simpsons, Homer Simpson, Lie Detector – do you understand?, 2012)
Zitate und Parodien
Eine Parodie auf die bereits erwähnte Supergeil-Serie von Edeka. Das Beispiel stammt von Marti Fischer. Genau genommen eine Cross-Promotion für LeFloid und für Marti Fischers YouTube-Kanal TheClavinover. Marti parodiert die Supergeiler-Mann-Version von Edeka mit Friedrich Liechtenstein.
Er sitzt an einem Schreibtisch mit angeklebtem weißem Bart und Sonnenbrille auf der Nase, wie Friedrich Liechtenstein. Marti Fischer nippt an einem Wasserglas und spricht mit demonstrativ tiefer Stimme: „Aah, also LeFloid, wie du es immer schaffst, diese The News vorzutragen. Supergeil. Jede Info perfekt recherchiert und ich meine es so, wie ich es sage. Du bist sehr geil, du bist supergeil.“ Titel. „Wisst ihr, wer auch supergeil ist? TheClavinover.“ (Marti Fischer, Supergeiler LeFloid, 2014)
Eine Eigentümlichkeit des Virals ist, dass es parodiert und zitiert, und damit dem Original zur Ehre gereicht. Ein vielmals zitiertes und parodiertes Musikvideo stammt von Miley Cyrus. Titel: Wrecking Ball. Das Original verzeichnet über eine Milliarde Aufrufe und ist aus dem Jahr 2013. Miley Cyrus schaukelt nur mit Höschen und einem Top bekleidet auf einer Abrissbirne. Offensichtlich war das Video für viele User eine Inspiration und sie taten es ihr gleich. Die Anzahl der filmischen Parodien und Zitate ist enorm und zeigt die Energie, wenn die User Producer werden.
Wie wird das Social-Media-Video für die Werbung genutzt?
Das nächste Video nutzt die Bekanntheit der Influencerin Nikkie, die für ihre Schmink-Tutorials bekannt ist; mit über 12 Millionen Abonnenten auf YouTube. Das Werbe-Video wird in das Tutorial der Influencerin eingebettet und steht dadurch in einem überraschenden Kontext. Es ist für einen Verkehrssicherheitshinweis von Volkswagen aus dem Jahr 2012, A Crash Course to Shine:
Nikkie schaut direkt in die Kamera. Sie spricht zu uns. „Hey Guys! So today, I’m doing another tutorial. I’m sort of doing my look of like my Haute Couture, like an Avantgarde Version of the stars.“ Sie zeigt auf angeklebte Strasssteine neben ihrem Auge und hält einen Schminkkasten in die Kamera. „Today, we are using this fellow. It’s absolutely gorgeous. And we’re also going to use some rhinestones.“ Sie nimmt eine Dose: „These are the rhinestones.“ Sie blickt sie an und sagt: „I love you. That is what I am going to do today and if you want to know how I did this, please keep on watching. So, the first thing you are going to do is take a really nice dark brown eyeshadow. Apply this to your lower lashline.“ Sie trägt die Schminke mit einem Pinsel auf. „Like that. Now, I am gonna take a really nice highlighting colour. And you’re going to highlight the lid with this. Apply this to your eyelids. Okay, now you are just going to take the glue, apply it to your eyes like that and you take your rhinestones. This is …“. Plötzlich hört man das verzerrte Geräusch eines Zusammenstoßes zweier Autos. Laut krachendes Blech und zersplitterndes Glas. Wie ein visueller Schock schleudert der ganze Oberkörper von Nikkie in Zeitlupe auf uns zu und rasch wieder zurück. So, als hätte sie der Gurt zurückgehalten, durch die Scheibe zu fliegen. Ihre langen blonden Haare wirbeln wild durcheinander. Das Make-up und die Strasssteine fliegen in Zeitlupe durch die Luft. Der Titel blendet ein: „500.000 road crashes are caused by women drivers applying make-up.“ Quelle: The Telegraph. Das VW-Logo blendet ein mit dem Titel: „Please don‘t make up and drive.“ (Volkswagen, Nikkie, A Crash Course to Shine, 2012)
Das Video erreichte in wenigen Tagen hohe Klickzahlen und verbreitete sich in der ganzen Welt. Der visuelle Schock des Aufpralls in Zeitlupe lässt niemanden unberührt und reißt den Betrachter förmlich aus dem Sessel. Die überraschende Wendung besitzt einen enormen Wumms, weil die Influencerin für einen Moment mit lautem Krach auf uns zufliegt. Das bleibt in Erinnerung. Die Auflösung in Form des Titels rechtfertigt die filmische Konzeption und Idee.
Social-Media-Videos schaffen es manchmal auch ins Fernsehen. Die TV-Sender spendieren durch ihre Berichterstattung darüber noch größere Aufmerksamkeit und die Videos erreichen so die breite Masse. Wer in Social Media erfolgreich ist und es ins Fernsehen schafft, bekommt die Krone ausgesetzt. Mehr zu den Gestaltungsbedingungen von Social-Media-Videos demnächst auf diesem Blog.
Kreative Pause …